(Erster Teil)

Bei uns an der Nordseeküste wurde überall Plattdeutsch gesprochen. Diese Sprache ist eigentlich dem Englischen ähnlicher als dem Deutschen. England ist ja gerade gegenüber, auf der anderen Seite der Nordsee. Hochdeutsch gab es nur in der Schule und in Büchern. Aber mein Großvater Erwin, der als Lehrer ja alles wusste, sagte, ich dürfe kein Plattdeutsch lernen, denn sonst würde ich nachher in der Schule große Schwierigkeiten mit dem Hochdeutsch haben und nie anständig sprechen. Also musste ich Hochdeutsch sprechen und die sehr beschränkte Anzahl von Menschen, die mit mir sprechen durften, musste alle Hochdeutsch mit mir sprechen. Zu der damaligen Zeit hatten Lehrer ein großes Ansehen, denn sie hatten ja studiert, so wie der Herr Pastor. Deshalb wussten sie auch alles und man musste ihnen glauben. Meine Mutter passte darauf auf, dass alle Leute  Hochdeutsch mit mir sprachen. Nur meinem Großvater Anton war das völlig egal, meine Mutter hasste ihn wie die Pest, vielleicht deswegen, ich weiß es nicht. Leider traf ich Großvater Anton nicht sehr oft, und er war auch nicht sehr gesprächig. Wenn ich mit meiner Mutter einkaufen ging, sagte sie den anderen Leuten, dass ihre Tochter kein Plattdeutsch versteht und dass alle bitte, wenn sie mir etwas sagen wollten, Hochdeutsch sprechen sollten. Da ich also Plattdeutsch nicht verstehen durfte, tat ich immer so, als ich verstünde nichts. Ich fühlte mich innerlich sehr schuldig, weil ich natürlich alles verstand, aber niemand durfte es wissen. Ich hatte auch Angst, mich zu verraten, denn oftmals wurde ich getadelt, weil ich irrtümlicherweise ein plattdeutsches Wort verwendete. Meine Mutter machte sich dann über mich lustig, das war mir sehr peinlich. Ich strengte mich sehr an, keine Fehler zu machen.

Natürlich verstand ich alles. Ich glaube es ist unmöglich für ein Kind, nicht die Sprache zu verstehen, die ausnahmslos von allen anderen Menschen seiner Umgebung gesprochen wird. Das Gehirn lernt diese Sprache einfach automatisch. Aber das schien damals niemand zu wissen, und ich hatte als Kind natürlich weder die Fähigkeit noch die Autorität, es zu erklären. Solange ich mich erinnere, stellte ich täglich fest, dass die Erwachsenen untereinander anderes erzählten als die bereinigte Version, die sie mir dann präsentierten. Also war für mich das Hochdeutsche die Sprache der Lüge. Ich als Kind musste gehorchen und tun, was die Erwachsenen von mir erwarteten. Ich durfte ausschließlich die Sprache der Lüge zum Sprechen benutzen, musste aber in der Sprache der Lüge stets die Wahrheit sagen, denn ich durfte nicht lügen. Ein schier unlösbares Problem. Ich durfte nicht verstehen, was sie sich erzählten, verstand es aber und musste also lügen, indem ich so tat, als verstünde ich es nicht. Ich durfte auch ihre Wörter nicht benutzen. Leider war ihre Sprache viel reichhaltiger als diejenige, die ich benutzen musste, und in ihrer Sprache waren Gefühle drin. In der Sprache der Lüge waren keine Gefühle, denn Lüge ist kein Gefühl, Lüge ist Berechnung. Ich saß in einer Zwickmühle, konnte es einfach nicht richtig machen und fühlte mich total schuldig deswegen. Zum Glück hatte Sabine mir ihre Theorie erklärt, dass man machen kann, was man will, wenn es nur niemand merkt. Obwohl ich das alles ja im Grunde gar nicht wollte, hat sie mir dennoch damit wirklich geholfen durchzuhalten, ich musste einfach irgendwie damit zurechtkommen. Ich war mir auch nicht bewusst, dass es im Leben anders sein kann. Und da mir immer gesagt wurde, dass alle doch nur mein Bestes wollten, kam ich natürlich nicht auf die Idee, mich zu beklagen. Ich hatte ja solches Glück, dass alle mich so liebhatten, dass mein Großvater über alles Bescheid wusste und meine Mutter so allen Leuten erklären konnte, wie sie es mit mir machen sollten. Ich fühlte oft, eigentlich fast immer, eine Schwere auf der Brust, konnte nicht gut atmen, hatte oft Schnupfen, Husten, fiebrige Erkältungen.

Damals wusste noch niemand, dass psychischer Druck krank macht und dass gewisse Krankheiten auf ein psychisches Unwohlsein hinweisen. Krankheit gab es überall, wir hatten einen Doktor, der ins Haus kam und ein Medikament verschrieb, wenn es schlimm war. Irgendwann ging es dann ein bisschen besser, aber dann ging es doch wieder los. Ich musste oft im Bett oder auf dem Sofa liegen, leichte Nahrung wie Milchsuppe essen und Tee trinken. Mein Großvater Erwin war auch oft krank, das war dann schlimm und er musste ins Krankenhaus, um operiert zu werden. Ich hörte oft Sätze wie „Jeder hat sein Kreuz zu tragen“ oder „Wer schön sein will, muss leiden“. Das war so, es gab nichts zu klagen. Jahrzehnte später habe ich endlich begriffen, wie sehr diese schizophrene Sprachsituation an meiner körperlichen Schwäche und meinem katastrophalen Gesundheitszustand beteiligt war, gekoppelt mit der riesigen Anstrengung, die ich aufbringen musste, um damit zurechtzukommen.