(Dritter Teil)

Rebekka und ich stiegen also in den Zug. Er war schon voll mit Schülerinnen und Schülern und Erwachsenen, die sich zur Arbeit begaben. Bei jeder Haltestelle stiegen noch Leute zu, es wurde eng. In St. Mathias am Meer angekommen, brauchten wir nur den anderen Schülerinnen und Schülern zu folgen. Nach etwa zwanzig Minuten zu Fuß kamen wir in der Schule an. In der Eingangshalle zeigte ein Pfeil den Weg zur „Sexta“ an. Sexta, das waren wir. Die Klasse war riesengroß, wir waren 48 Sextaner. Wir kannten natürlich niemanden. Etwa ein Viertel waren Mädchen. Damals gingen noch viele Eltern davon aus, dass Mädchen keine höhere Schulbildung brauchten, weil sie ja doch heirateten und Kinder kriegten.

Der Großteil der Schülerinnen und Schüler wohnte im Internat. Dieses Internat gehörte zur Schule, denn ohne Internat wäre es nicht möglich gewesen, in einer so ländlichen Gegend ein Gymnasium zu haben. Die Internatler waren Kinder reicher Leute, denn die Eltern mussten viel Geld dafür bezahlen. Viele dieser Kinder kamen aus dem Ausland, ein Elternteil war meistens aus Deutschland ausgewandert und wünschte eine deutsche Schulbildung für das Kind oder die Kinder. Lena war ein Sonderfall. Sie kam von einer Hallig. Ihr Vater war dort Landwirt und sie hatte mehrere Geschwister. Lena war sehr gut in der Schule und wissbegierig. Der Halliglehrer gab aber nur Grundschulunterricht. Lenas Vater verdiente nicht genug, um das Internat zu bezahlen. Deshalb kam das Bundesland für Lenas Internatskosten auf. Lena blieb nur 6 Jahre bei uns, bis zur mittleren Reife. Damit konnte sie ihre Ausbildung als Krankenschwester beginnen. Das hatte sie immer gewollt und sie war sehr dankbar dafür, dass dieser Wunsch Realität werden konnte.

Dieses Gymnasium vereinte also Kinder aus aller Welt, meist aus Großstädten, Kinder aus St. Mathias am Meer und die Fahrschüler, das waren wir, die mit der Bahn fuhren. Die Internatler außer Lena besaßen viel Kleidung und Schuhe, im Gegensatz zu uns. Sie sprachen von Sachen, die wir nicht kannten, wie U-Bahn, Theater, Seilbahn und dergleichen mehr. Wir Landkinder fühlten uns ein bisschen minderbemittelt. Rebekka hatte, als sie klein war, in Hamburg gewohnt und besuchte dort manchmal Bekannte mit ihren Eltern. So wusste sie natürlich von vielen Sachen, die ich nie gesehen hatte. Aber ich tat so, als wüsste ich alles und so lernte ich dazu. Diese Strategie hatte ich ja schon immer innerhalb der Familie angewandt, wo es sich nicht schickte, zu viele Fragen zu stellen. Es wäre zwar schön gewesen, mal was anderes zu erleben, aber das war nun mal nicht so. Ich verhielt mich so, wie von mir erwartet wurde. Ich hatte immer gute Zensuren, auch im Gymnasium. Dadurch konnte ich mir manchmal kleine Extravaganzen gegenüber den Lehrern erlauben, das machte den Ausgleich. Diejenigen, die schlechte Zensuren hatten, mussten da mehr aufpassen. Ich fand meine Überlebensstrategie ganz akzeptabel und die Schule machte mir Spaß.