(Fünfter Teil)

Das Jurastudium dauerte vier Jahre und begann im Herbst 1992. Im Sommer 1996 bestand ich meine Lizenziatsprüfung für schweizerisches Recht (heute Master). Da meine Kinder während ihrer Ausbildungsjahre Anrecht auf öffentliche Beihilfe hatten, probierte ich, eine Beihilfe auch für mein Studium zu bekommen. Aber nein, man wollte mir nichts geben. Ich habe gegen das Stipendienamt geklagt, meine Klage wurde abgelehnt, ich bin bis zum Bundesgericht gegangen. Natürlich konnte ich mir keinen Anwalt leisten, um meine Klage durchzuführen, also habe ich sie selbst geschrieben. Da ich keine Ahnung hatte, wie man so etwas macht, bat ich einen Anwalt, den ich bei meinen politischen Tätigkeiten kennengelernt hatte, mir ein Modell einer Klage am Bundesgericht zu geben. Er gab mir ein Modell und sagte sogar, ich dürfe ihm nachher zeigen, was ich geschrieben habe. Leider sollte es wohl nicht so sein. Nach sehr kurzer Zeit kam dieser freundliche Anwalt bei einem Flugzeugunglück ums Leben. Ich habe Blumen zu seinem Grab gebracht. Leider kannte ich keinen anderen Anwalt, also musste ich meine Klage ganz allein fertigstellen. Natürlich wurde mein Begehren abgelehnt. Ich hatte die Klage ja ganz allein gemacht, hatte gerade erst mit meinem Studium begonnen und hatte keine Ahnung von all den rechtlichen Vorschriften. 

Ich stellte auch viele Anträge für eine finanzielle Unterstützung bei Stiftungen und Hilfswerken verschiedener Art. Niemand wollte mir helfen. Im zweiten Studienjahr hatte ich mehr Glück. Ich sprach beim Sozialdienst der Universität vor und klagte mein Leid. Tatsächlich habe ich während der folgenden drei Jahre, bis zum erfolgreichen Abschluss meines Studiums, eine kleine, monatliche Beihilfe bekommen, die mir wirklich sehr geholfen hat.

Diese vier Jahre in der UNIL (université de Lausanne) haben mein Leben verändert. Von Anfang an fühlte ich mich dort am rechten Platz. Während der drei ersten Studienjahre hatte ich ein eigenartig konkretes Gefühl, wie wenn täglich mehrere Kilo Dummheit aus meinem Kopf sprangen und auf dem Boden zerschellten. Das vierte Jahr war anders. Wir hatten jetzt die nötigen Grundkenntnisse, jetzt ging es um die Verfeinerung, die Anwendungsgebiete, spezifische philosophische Fragen, verschiedene, manchmal gegenteilige Auslegungen. Ein wahres Zuckerschlecken!

Ich liebte die Atmosphäre des befreienden Wissens in der Universität, ich spürte förmlich den geruchlosen Duft der Freiheit auf meiner Haut. Es war total anders als alles, was ich je gekannt hatte. Eine frische Brise von Zukunft und Leben anstelle der missmutigen, düsteren Umgebung, in der ich seit Jahren gelebt hatte und in der die sauerstoffarme, moderige Luft kaum noch die Flamme des Lebens nährte. Wie habe ich das aushalten können? Auch wenn sich mein Leben nicht konkret verändert hatte, auch wenn die materiellen Sorgen und die Erziehung meiner Kinder mich schwer belasteten, so loderte doch in mir eine kräftige Flamme des Lebens, die ich als solche nie erlebt hatte.

Ich studierte Ehe- und Scheidungsrecht, als ich persönlich mich gerade damit herumschlug. Die verschiedenen rechtlichen Sparten erinnerten mich an Probleme von Bekannten, Baurecht, Nachbarschaft, Adoption, Firmengründung, Versicherungen – das ganze kunterbunte Leben nahm Einzug in die Hörsäle. Die anderen Studierenden, eine Generation jünger als ich, fanden, die Professoren übertrieben es, so komplizierte Sachen gäbe es doch gar nicht. Ich lachte: „Wartet ab, so etwas Simples gibt es in der Wirklichkeit nicht, es ist doch viel verstrickter.“ Sie schauten mich ungläubig an. 

Ich meldete mich oft, um Fragen zu stellen, wenn mir etwas nicht klar war. Jetzt oder nie hatte ich die Gelegenheit, endlich zu verstehen. Die meisten Professoren antworteten gern auf meine Fragen. In der Pause kamen junge Mitstudierende zu mir und bedankten sich, dass ich die Fragen gestellt hatte. „Ich hatte es auch nicht verstanden, aber ich dachte, ich sei wohl zu dumm.“ – „Du kannst es ruhig probieren, dumm oder nicht, du siehst ja, ich habe es überlebt.“ Mein Beispiel machte Schule. Die Vorlesungen wurden mehr und mehr interaktiv. Die Professoren klagten nicht. Im letzten Studienjahr, die Anzahl Studierender war so stark geschrumpft, dass die Vorlesungen manchmal zu persönlichen Gesprächen wurden, sagte uns ein Professor, wir seien wirklich ein ganz sonderbarer Jahrgang. In seiner zwanzigjährigen Karriere habe er nie zu tun gehabt mit derartig interessierten Studierenden, die nicht die leiseste Zweideutigkeit zulassen und alles ganz genau verstehen wollen. Er fühle sich gefordert mit uns und es mache ihm großen Spaß. Er habe mit Kollegen über uns gesprochen, alle seien derselben Meinung.

Natürlich konnte ich nicht an den Freizeitaktivitäten für Studierende teilnehmen, denn ich musste mich um meine Kinder und den Haushalt kümmern. Aber ich pflegte gute Kontakte mit verschiedenen Kolleginnen und Kollegen. Das reichte mir, ich war zufrieden.