(Zweiter Teil)

Manuela schaute sicher oft Fernsehen, denn sie wusste eine Menge Sachen, von denen wir anderen keine Ahnung hatten. Ich war acht Jahre alt, als sie mir ganz stolz berichtete, dass es den Weihnachtsmann gar nicht gibt. – Wie bitte? Er kam doch jedes Jahr vor Weihnachten auf den Marktplatz mit einem großen Sack. Jedes Kind, das ein Gedicht aufsagte, bekam eine Tüte mit Nüssen, Äpfeln und Schokolade. Und zu Weihnachten lud er doch in allen Häusern die Geschenke für die Kinder ab. Es war natürlich unmöglich, ihn zu treffen, er war ja sehr in Eile. – Manuela sagte, ich solle mal meine Eltern fragen, ihre Eltern hätten ihr bestätigt, dass es den Weihnachtsmann nicht gäbe. Natürlich habe ich sofort nach der Schule meine Mutter gefragt. Sie sagte, Manuela sei ein dummes Mädchen, ich solle nicht auf sie hören. Trotzdem fragte ich auch meinen Vater und die Großeltern. Alle waren sich einig: Natürlich gibt es den Weihnachtsmann! Manuela wollte mir nicht glauben. Ich verteidigte meine Eltern und Großeltern, die wüssten es doch schließlich! Nichts zu machen, Manuela bestand darauf, dass es ihn nicht gäbe. Daraufhin fragte ich die Lehrerin. Sie antwortete, dass sie zu Weihnachten die Geburt des Jesuskindes feierte. Allerdings habe sie auch schon den Weihnachtsmann auf dem Marktplatz gesehen, ich solle doch mit meinen Eltern darüber sprechen. Fräulein Schmidt war noch nicht verheiratet und hatte keine Kinder. Daran lag es wohl, dass sie nicht so richtig Bescheid wusste, was den Weihnachtsmann angeht. 

Meine letzte Hoffnung war der Bürgermeister im Rathaus. Er hat mich auch empfangen und hat mir klar gesagt, dass es den Weihnachtsmann natürlich gäbe, ich sollte meinen Eltern vertrauen.

Also, jetzt war es ja wohl klar, Manuela war wirklich stur und musste verhaut werden. Das tat ich also auch, als sie am Folgetag schon wieder auf ihrer Meinung beharrte.

Ich kann mich nicht ganz genau erinnern, was daraufhin geschah: Ich wurde ausgeschimpft und bestraft. Manuela wurde zum bedauernswerten Opfer. Diese Situation ähnelte derjenigen, als ich die Ehre der Zahlen gegen die Angriffe meines Cousins verteidigt, als jener die Waschwannen falsch zählte. Diesmal hatte ich aber die Ehre sämtlicher Personen verteidigt, denen ich vertraute. Mir wurde gewahr, dass alle mich angelogen hatten, außer Fräulein Schmidt, die nicht so recht Bescheid wusste.

Mir war als müsse ich sterben. Mit einem Schlag wurde mir klar, dass ich in einer teuflischen Gesellschaft lebte, deren Mitglieder wie böse Zwerge nur Freude empfinden konnten, wenn sie mich in die Irre führten. Und diese Leute sind meine Eltern, meine Großeltern! Entsetzen ergriff mich. Sie halfen sich sogar untereinander beim Lügen. Sie machten sich über mich lustig: “Wie süß, die Kleine, dass sie das so lange geglaubt hat!“ Und jetzt war ich der Bösewicht, weil ich, um ihre Ehre zu retten, Manuela verhauen hatte. Ja, sie konnten sich erlauben, dieses grausame Spiel mit mir zu spielen, sie wussten ja, dass ich nicht weglaufen konnte, noch nicht. Mein Wunsch, von hier zu verschwinden, wurde stärker denn je: weg von hier, weg, weg, woanders hin, irgendwo hin, weg von ihrer Macht, diese Eltern verlassen und all diese Leute, die ich lieben muss und denen ich sagen muss, dass ich sie liebhabe. Wie können sie nur so blind sein und die Sinnlosigkeit ihres ekelerregenden, brutalen Verhaltens nicht sehen? Haben sie denn nie die Liebe von Fräulein Schmidt gespürt, die Nächstenliebe, wo man jemandem hilft, der Hilfe braucht und wo man sich wohlfühlt, geholfen zu haben? Ihre Liebe ist die Liebe zu einem Spielzeug und das Spielzeug bin ich. Sie haben Freude an ihrem Spiel. Sie kennen keine andere Freude. Ich hasse ihre Liebe!