(Fünfter Teil)

Ich liebte ganz besonders die historischen Vorlesungen, es ging um alte Sitten und ungeschriebenes Recht, Entwicklung des Verfahrensrechts, römisches Recht. Mir fielen Schuppen von den Augen. Es kommt alles irgendwo her. Wir leben mit dem, was die Urahnen uns hinterlassen haben. Ich hatte nie verstanden, wozu Geschichte gut ist, weil man doch das, was vorbei ist, nicht mehr ändern kann. Für diese Professoren, anders als meine Geschichtslehrer im Gymnasium, war ihr Fach eine Leidenschaft, in die sie sich voll vertieften. Leidenschaft aber steckt an. Trockene Daten machen schläfrig. Ich werde nie den Professor Jean-François Poudret vergessen und möchte ihn hier ganz persönlich ehren. Professor Poudret war eine graue Eminenz, wahrscheinlich hat er nie etwas von Pädagogik gehört. Er besaß ein atemberaubendes Wissen, das er in Hochgeschwindigkeit von sich gab. Wir mussten altfranzösische Texten kaufen, die er kommentierte. Verstehen mussten wir sie allein – wie, das war ihm egal. Wir hatten alle Schmerzen in den Armen vom Schreiben (damals schrieb man noch mit einem Federhalter auf Papier, es gab keine Laptops) und nach 90 Minuten verbissenem Kampf mit seinem Informationssturm hatten wir alle heftige Kopfschmerzen. Wir zückten unsere Fläschchen Carmol um zu überleben. Bei Professor Poudret stellte man keine Fragen. Wir mussten verstehen, irgendwie. Und wir verstanden. Wir hatten keine Wahl. Nach der Vorlesung verschwand er ganz einfach, kein Gruß, kein „Auf Wiedersehen“. Und was gibt es bei so einer Person zu ehren? Das ist doch brutal und unmenschlich! Nein, er hatte ein unheimlich großes Wissen, das er mit uns teilen wollte. Er half uns nicht, zu verstehen, was er präsentierte. Wir mussten damit zurechtkommen, und wir kamen damit zurecht. Unsere anfänglichen Kopfschmerzen waren das Zeichen dafür, dass unsere Hirne sich verfeinerten. Er wusste, dass wir es konnten. Er vertraute uns mehr, als wir uns selbst vertrauten und er hatte Recht. Intelligenz muss gefördert werden. Er hat uns gefördert. Vertrauen ist weder unmenschlich noch brutal. Das Vertrauen dieses Genies in meine intellektuellen Fähigkeiten ist das schönste Geschenk meines Lebens. Professor Poudret ist 2014 im Alter von 90 Jahren gestorben. Wir sind seine Erben.