(Dritter Teil)
In der Sexta (erste Klasse Gymnasium, fünftes Schuljahr des Gesamtsystems) waren wir also 48 Kinder. Die Lehrerinnen und Lehrer, die den Titel Studienrat trugen, konnten sich natürlich nicht so schnell all unsere Namen merken, insbesondere, weil wir für jedes Fach andere Studienräte hatten. Deshalb mussten wir unsere Namen auf ein Pappschild schreiben und vor uns auf den Tisch stellen. Einer der Lehrer nannte uns mit unseren Nachnamen. Für Kinder von elf und zwölf Jahren ist das schon ein wenig eigenartig. Niemand schätzte es, aber wir wurden nicht nach unserer Meinung gefragt. Diese Studienräte waren ziemlich streng, sie hatten keine persönliche Beziehung zu uns, jedenfalls nicht am Anfang mit so einer großen Klasse. Das störte mich aber nicht, im Gegenteil: Ich wollte immer so schnell wie möglich erwachsen werden und das gehörte sicher dazu. Bei diesen Lehrern waren Fragen aller Art willkommen, natürlich nur zu dem unterrichteten Fach. Als gute und interessierte Schülerin hatte ich oft recht spitzfindige Fragen, die mir dann auch beantwortet wurden. Es war so ganz anders als zu Hause. Ich wurde nie für meine Fragen gerügt.
Ich fand die verschiedenen Fächer interessant, es gab mehr Materie als in der Grundschule, alles ging schneller. Ich merkte wirklich, dass ich viel lernte, dass ich jede Woche mehr wusste als vorher. In der Grundschule konzentrierte ich mich nie, meine Gedanken schwirrten die meiste Zeit herum, ich war mir kaum bewusst, etwas zu lernen, jedenfalls nicht von einer Woche zur anderen. Konzentration war mir neu, gefiel mir aber sehr. Ein wahres Glücksgefühl ergriff mich, als wir die Zahlensysteme lernten. Unser Rechenlehrer erklärte uns, dass wir mit dem Zehnersystem rechnen, dass aber in früheren Zeiten auch das Zwölfersystem benutzt wurde. Das Überbleibsel sei das Dutzend. Er sagte, insbesondere das Zweiersystem, wo nur die Ziffern 1 und 0 benutzt werden, habe eine große Zukunft. Er habe einen wissenschaftlichen Artikel; das was er uns hier erzähle, sei das Neueste vom Neuen. Es würde noch dauern, aber wir würden es erleben: Das Zweiersystem würde die Welt verändern. Er hatte Recht, die ganze Informatik basiert darauf. Das Beachtliche ist, dass dieser Rechenlehrer uns diese Weissagung im Jahre 1963 machte. Von all meinen Bekannten derselben Generation bin ich die Einzige, die schon so früh ganz exakt darüber informiert worden war, dass 30 Jahre später die Informatik effektiv die Welt verändern würde.
In der Sexta lernten wir auch Englisch. Ich hatte englische Musik schon aus einer Jukebox gehört. Mein Vater war mal mit mir und meiner Mutter in einem Restaurant ein Brathähnchen essen gegangen, da hörte ich sehr rhythmische Musik auf Englisch. Ich schaute nach, von wem die war. Der Name war „Beatles“. Das Neueste vom Neuen – dann später weltbekannt. Die englische Sprache war leicht zu lernen für uns und wir hatten Spaß daran. Schon bald sprachen wir auf dem Schulweg Englisch untereinander, um uns darin zu üben.
Das einzige Fach, das mir Sorgen machte, war Sport. Die Sportlehrerin verdiente die Bezeichnung „Drachen“. Da ich sehr oft krank war, hatte ich nicht viel Kraft, ich hatte auch immer Gelenk- und Muskelschmerzen, Atembeschwerden und war dazu noch etwas tollpatschig. Dafür hatte diese Dame überhaupt kein Verständnis, ich wurde in einer Tour angedonnert und heruntergemacht. Ein Mädchen namens Helena hatte dasselbe Problem. Wir wagten nichts zu sagen, schauten uns aber gegenseitig in die Augen, wenn es schlimm kam. Ich habe diese Sportlehrerin 8 Schuljahre lang aushalten müssen, denn sie war die einzige Sportlehrerin für Mädchen. Im letzten Schuljahr hatten wir keinen obligatorischen Sportunterricht mehr. Ich habe meinen Gymnastikanzug verbrannt und mir geschworen, in meinem Leben nie mehr Sport zu treiben.
Im folgenden Schuljahr, der Quinta, wurde unsere Klasse geteilt. Es wurde angenehmer für uns und auch für die Studienräte, die wohl alle den Krieg als Soldat oder Flüchtling erlebt hatten und deshalb mehr oder weniger mit psychischen und/oder körperlichen Problemen zu kämpfen hatten, was ihren Charakter eher negativ beeinflusste, insbesondere in Stresssituationen. Damals wurde nie über so etwas gesprochen, denn im privaten Umfeld war es ja genauso, d. h. es gehörte einfach zum Leben. Unser Rechenlehrer hat uns einmal sehr beeindruckt. Er litt unter Hexenschuss, die Schmerzen machten ihn empfindlich. Mehrere unserer Jungs wuschen einem Mitschüler die Haare im Waschbecken in der Klasse. Das Opfer weinte, als der Lehrer in die Klasse kam. Er war sehr erbost und zur Strafe mussten die Angreifer sich gegenseitig die Haare waschen und dabei heftig aufeinander einschlagen. Der Lehrer schrie die Jungen an, wenn sie seiner Ansicht nicht genug Gewalt anwandten. Es war grausig anzusehen. Unsere Klasse war im Erdgeschoss. Ich saß am Fenster und wollte hinausspringen, aber ich war wie versteinert, konnte mich nicht bewegen und kaum atmen. Niemand bewegte sich. Danach mussten wir geräuschlos Mathematikübungen machen. Dieser Vorfall geschah gerade zu dem Zeitpunkt, als wir unseren späteren Zweig wählen sollten, mathematisch oder sprachlich. Eigentlich wollte ich in den mathematischen Zweig gehen, denn ich liebte Zahlen und Logik, aber mir war die Lust vergangen. Also wählte ich den sprachlichen Zweig. Dies bestimmte die Richtung meiner Zukunft: Im mathematischen Zweig hätte ich nie Französisch gewählt und wäre nicht in die französische Schweiz ausgewandert.
Einer unserer Englischlehrer hatte schwere Wutanfälle. Er war ein sehr guter Lehrer, hatte einige Jahre in Amerika gelebt und schaffte es, uns für die englische Sprache und Literatur zu begeistern. Leider wurde er leicht wütend, dann schrie er, verteilte schlechte Noten an alle, die in einem Satz nicht an der richtigen Stelle atmeten und erfand noch andere wirre Gründe, um uns zu strafen und zu zeigen, dass er allein der Herr im Hause sei. Trotz dieser beängstigenden Vorfälle hatten wir Spaß am Englischunterricht, denn er war interessant. Da er nicht mit uns singen wollte wie der vorhergehende Lehrer, hatten Rebekka und ich ihn gefragt, ob wir von Zeit zu Zeit englischen Gesangsunterricht geben dürften. Wir spielten zusammen Flöte und konnten so die Melodien gut vorbereiten. Der Lehrer war mit unserem Angebot einverstanden, wir durften den englischen Gesangsunterricht frei gestalten. Viele Jahre später wurde mir erzählt, dieser Lehrer habe in einem Wutanfall seine Ehefrau ermordet. Es schauderte mich, ich dachte an seine früheren Wutanfälle in der Klasse und mir wurde klar, dass er auch einen Schüler oder eine Schülerin hätte ermorden können. Seine zwei Töchter, die ich gut gekannt hatte, taten mir von Herzen leid.
Diese beiden Studienräte sind nur Beispiele, sie hatten alle den Krieg miterlebt und waren mehr oder weniger in ihrer Seele verwundet. Trotz dieser etwas eigenartigen Atmosphäre war ich immer viel lieber in der Schule als zu Hause. Ich konnte dort etwas lernen, als gute Schülerin war ich bei den meisten Lehrern beliebt und meine Neugier war geschätzt. Zu Hause kostete es mich eine Menge Energie, meine Neugier stets zu verstecken.
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