(Vierter Teil)

Kurz nachdem mich diese Schwangerschaft überraschte, rief meine Mutter mich an, um mir zu sagen, mein Vater habe Selbstmord begangen. Man habe ihn an einem Baum hängend gefunden …, ich habe nicht lange zugehört, den Hörer aufgelegt und überlegt, was ich tun solle. Meine Mutter hasste meinen Vater mit großer Leidenschaft, seit er sie verlassen hatte. Sie machte nur boshafte Aussagen und es wurde immer schlimmer. Es wäre absolut vorstellbar, dass sie diese Geschichte nur erfunden hätte, um mir damit wehzutun und mich nachher auszulachen, weil es doch nur ein Witz wäre. Sie hatte schon immer große Freude am Kummer anderer Leute, insbesondere an meinem Kummer. Aber von Zeit zu Zeit sagte sie auch mal die Wahrheit. Man konnte es nie genau wissen. Ich musste also kontrollieren, ob ihre Aussage stimmte.

Im Jahre 1985 gab es noch kein Internet, das internationale Telefonieren war sehr teuer, meist kommunizierte man brieflich. Aber die Sache war eilig hier. So besorgte ich mir die Nummer der Polizei von Gattenhude bei der internationalen Telefonauskunft. Diese konnten oder wollten nicht antworten und gaben mir die Nummer der Kriminalpolizei auf Kreisebene, die sich auch um Selbstmordfälle kümmerte. Ich rief sie an, wurde aber sofort zurechtgewiesen: „Kommen Sie persönlich vorbei, mit Ausweispapieren, da kann ja jeder anrufen und uns ausfragen.“ Nun ja, ich hatte da ein Problem von tausend Kilometern Distanz. Ich kam auf die Idee, die Kriminalpolizei in meinem Kreis in der Schweiz zu kontaktieren und ihnen meine Situation zu erklären. Ich konnte sie erst am Abend, nach meiner Arbeit, besuchen. Dort wurde ich freundlich empfangen, der Polizist hörte mir aufmerksam zu und rief den Untersuchungsrichter an, der nach einer halben Stunde vor mir saß. Ich fühlte mich sehr erleichtert, ernst genommen zu werden. Der Untersuchungsrichter stellte mir noch einige Fragen und rief dann die deutsche Kriminalpolizei an. Ich hörte zwar nicht alles, aber ich fand, er sprach gut Deutsch, natürlich mit einem Akzent. Das hat sicher dem deutschen Polizisten nicht gefallen. In Deutschland ist man die Mehrsprachigkeit nicht gewohnt und demensprechend weniger tolerant, was Grammatikfehler und Akzent angeht als in der Schweiz. Nach einem langen Telefongespräch kam der Richter erschöpft zurück. „Also wirklich, diese deutschen Polizisten, ich glaube, die haben noch nicht bemerkt, dass der Krieg schon seit langem zu Ende ist!“ Er hat mich zum Lachen gebracht, ich konnte mir die Unterredung sehr gut vorstellen. Kulturschock auf beiden Seiten. Er gab mir die Information, die ich brauchte. Meine Mutter hatte nicht gelogen, mein Vater hatte Selbstmord begangen. Der deutsche Polizist würde den offiziellen Bericht faxen. Schon hörte ich das Ticken des Faxgerätes. Der Richter bot mir einen Kaffee an, den ich dankend annahm. Ich durfte den Bericht lesen und die Kopie behalten. Er fragte mich, ob ich mich fähig fühlte, nach Hause zu fahren. Ja, ich war erleichtert zu wissen, was vorgegangen war, auch wenn die Beschreibung des Leichenauffundes nicht sehr schonend im Ausdruck war. Um 22 Uhr war ich endlich zu Hause. Bernard war da und hatte die Kinder ins Bett gebracht.

Das Begräbnis fand einen Monat später statt. Zum Glück hatten die Geschwister meines Vaters sich um alles gekümmert. Sie hatten mit meiner Mutter gesprochen und wussten, dass ich aus der Ferne unfähig war, die Dinge zu regeln und auch meine drei kleinen Kinder nicht einfach so allein lassen konnte. Ich war also nur ein paar Tage zum Begräbnis gekommen. Alles war organisiert. Ich habe mich bei meinen Tanten und Onkeln bedankt. Aber ich habe niemandem gesagt, dass mein viertes Kind schon unterwegs war.

Während dieser ganzen Geschichte unterdrückte ich sämtliche Gefühle. Ich weinte keine einzige Träne. Klar war ich nicht glücklich über den Tod meines Vaters. Aber ich fühlte auch keine Traurigkeit. Ich war dermaßen im Stress, dass ich es mir einfach nicht leisten konnte, irgendwelche Gefühle auszuleben. Ich musste arbeiten, mich um meine Kinder kümmern und zusehen, dass wir mit dem wenigen Geld auskamen, ich war vor Kurzem umgezogen, wohnte an einem neun Ort, den ich noch nicht gut kannte, war schwanger von einem sehr freundlichen Mann, den ich aber kaum kannte, musste eine Scheidung einleiten, weil die Situation es so verlangte, meine Mutter informierte mich über den Selbstmord meines Vaters, aber da ich den Charakter meiner Mutter kannte, musste ich alles nachprüfen, wobei die deutsche Polizei sich nicht durch ihre Hilfsbereitschaft auszeichnete, dann musste ich um eine Woche Urlaub von der Arbeit bitten, musste meine Reise organisieren, Hilfe für die Kinder organisieren mit Nachbarn, die ich noch nicht gut kannte, und zusehen, dass ich mit all diesen zusätzlichen Ausgaben irgendwie zurechtkam. Mein Gehirn war dermaßen überfüllt, dass ich im Fall irgendeiner starken Emotion zusammengebrochen wäre. Das durfte einfach nicht passieren. Als ich todmüde von der Reise zurückkam, empfing mich die freundliche Nachbarin, die sich gerade um die Kinder kümmerte. Meine große Tochter erklärte mir, dass Bernard im Krankenhaus sei, weil er einen Unfall gehabt habe. Ich fand, es reichte langsam.