(Erster Teil)

Wie gesagt, entsprach der Inhalt der Gespräche, die ich unerlaubterweise verstand, oft nicht dem, was man mir dann sagte. Allerdings wurden Farben und Zahlen so gut wie nie geändert. Daraus schloss ich, dass Zahlen und Farben aus einer ganz besonderen, unantastbaren Materie sind und aus diesem Grund die Wahrheit in sich tragen können. In meinem Kopf überlegte ich viel, es gab – und gibt auch heute noch – einen Ort in meinem Hirn, der weit über mein Hirn hinausgeht, dort bin ich in totaler Sicherheit, dort kann nur Wahrheit eintreten, dort ist alles gut und richtig: das ist der Denkraum. Dort bin ich frei, dort darf ich denken, auf der Basis der Wahrheit. Was bei meinen Gedanken herauskommt, ist auch Wahrheit. An diesem Ort gibt es keine Schwere, keinen Druck. Die Gedanken sind frei, nicht formatiert, würde man heute sagen. An diesem Ort schweben Zahlen und Farben, denn diese enthalten die Wahrheit. Dort bin ich ich selbst. Ich darf alles und mache nichts falsch.

Ich liebte diesen Ort und zog mich oft dorthin zurück. Die Zahlen und Farben dienten in einer gewissen Hinsicht als Koffer, in den mein Erlebtes verpackt wurde. Doch nur die Wahrheit konnte in den Koffer, alles andere blieb draußen. Mein Hirn war beim Denken nicht an eine Sprache gebunden, die Wahrheit braucht keine Sprache. Fertige Überlegungen schlüpften wieder in einen Zahlen-Farben-Koffer, dann ging es zurück in die Realität, zur Station Sprachzentrum in meinem Gehirn, wo sie in sprachliche Form gebracht wurden. Natürlich verloren sie ein wenig an Perfektion, aber keine Sprache kann die reine Wahrheit widerspiegeln.

Im späteren Leben wurde mir gewahr, dass alle Sprachen zu einer Umwelt gehören, einer Gesellschaft, mit all ihren spezifischen Regeln und Tabus. Jegliche sprachliche Kommunikation verliert an Wahrheit, sobald sie formuliert ist. Dieses Dilemma gehört zum menschlichen Leben. Was wir sagen, kann nicht perfekt wahr sein. Dennoch haben wir die Möglichkeit, in unserem Hirn diesen Ort zu betreten, wo nur die Wahrheit Eintritt hat, diesen Ort, der weit über unser Hirn hinausgeht, wo wir frei denken dürfen, ohne Belastung durch die irdische Schwere. Als lebendige Wesen müssen wir akzeptieren, dass wir einen Teil der Wahrheit einbüßen, wenn wir unsere Gedanken kommunizieren wollen. Wir können nur unser Bestes tun, mehr nicht. Ich stelle mir vor, dass alle Leute so einen Denkraum haben, aber vielleicht ist das falsch. Ich habe nie jemanden gefragt.  

Ich habe lange Jahre als Übersetzerin gearbeitet. Dort wurde mir klar, dass eine wortwörtliche Übersetzung von einer Sprache zur anderen nicht mehr viel Wahrheit enthält, denn jedes Wort deckt ein gewisses Sinnspektrum ab, welches selten in zwei Sprachen genau dasselbe ist. Ich muss den Sinn des Gesagten in die Originalsprache integrieren und diesen Sinn so genau wie möglich in der Zielsprache wiedergeben. Dabei können Fehler passieren, wenn man nicht geübt ist.

Eine heitere Anekdote ist mir passiert, als ich seit einigen Jahren in der französischen Schweiz wohnte und die Sprache schon recht gut, aber noch nicht perfekt beherrschte. Ich hatte geheiratet und bei der Heirat den Namen geändert. Das Telefon klingelte, ich nahm ab, der Anrufer hatte sich verwählt und fragte irritiert auf Deutsch, mit wem er dort spreche. Ich sagte ihm meinen Mädchennamen, denn mit diesem hatte ich in Deutschland gelebt. Im selben Moment merkte ich, dass irgendetwas nicht stimmte, aber ich war so verwirrt, dass ich nicht mehr wusste, wie ich heiße. Das ist peinlich!

Ein andermal, etwa zur selben Zeit, hatte ich im Abstand von wenigen Tagen zwei verschiedenen Personen auf dieselbe Frage geantwortet, einmal auf Deutsch und einmal auf Französisch. Ich wurde gewahr, dass ich völlig anders geantwortet hatte. Die Frage konnte in kultureller Hinsicht nicht auf dieselbe Art beantwortet werden.

Diese Erlebnisse haben längere Zeit in meinem persönlichen Denkraum verbracht. Die Verarbeitung hat mir gezeigt wie komplex das Verhältnis zwischen Sprache, Kultur, persönlichen Überzeugungen und dem, was man zu wissen glaubt, ist.

Mir ist aufgefallen, dass ich mich unheimlich wohlfühle, wenn ich das Glück habe, mit Menschen zu diskutieren, die dieselben Sprachkenntnisse haben wie ich. Mit einigen Personen habe ich darüber gesprochen und sie sagen dasselbe. Wenn wir die Möglichkeit haben, von einer Sprache zu einer anderen zu hüpfen, fühlen wir uns sehr frei, die Diskussion ist würzig und erfrischend, eine Art freundschaftliches Gefühl überkommt uns in diesem Moment.