(Erster Teil)
Unser Schlafzimmer befand sich im Dachgeschoss. Wahrscheinlich handelte es sich um das ehemalige Zimmer einer Hausangestellten. Der Raum besaß einen Ofen, links neben der Tür. Gleich hinter dem Ofen, an der Seitenwand, stand das Bett meiner Mutter. An der anderen Seitenwand standen ein weiß angestrichener Kleiderschrank und mein Kinderbett, mit Aussicht auf das kleine Fenster. Neben dem Fenster blieb gerade noch der Platz für das Bett meines Vaters.
Ich musste jeden Abend beten. Das Gebet hieß: „Lieber Gott, ich schlafe ein, schicke mir ein Engelein, lass es an meinem Bette stehn und in meinem Herzen sehn.“ Jeden Abend dasselbe. Nie habe ich einen Engel wahrgenommen. Wäre tatsächlich einer gekommen, hätte ich mich gerne mit ihm darüber unterhalten, was er da in meinem Herzen wohl sieht. Aber bei den Engeln schien es kein Interesse für mich zu geben. Und wäre ein Engel dagewesen, dann hätte er mich ja auch vor dem Wolf schützen können. Ja, im Zimmer war ein Wolf!
Meine Mutter heizte am frühen Abend oft ein bisschen den Schlafzimmerofen an, denn sonst wäre es zu kalt zum Schlafen. Aber meine Mutter wusste nicht, dass der Ofen nur tagsüber ein Ofen war. In der Nacht verwandelte der Ofen sich in den bösen Wolf, den Wolf vom Rotkäppchen oder auch von den sieben Geißlein. Jeden Abend musste ich in das Zimmer mit dem Wolf, wo meine Mutter mich allein ließ. Das war schlimm. Der Wolf hatte mir gesagt, das sei unser Geheimnis, ich dürfe nie einem Erwachsenen etwas davon verraten, dass er der Ofen sei, sonst würde er mich sofort auffressen. Aber er hatte mir nicht gesagt, dass er mich nicht auffressen würde, wenn ich nichts sage. So lebte ich in einer stetigen Angst. Ich wagte nicht einzuschlafen. Sobald meine Mutter kam, um in ihr Bett zu steigen, begann ich zu schreien, bis sie mich zu sich nahm. Morgens wachte ich meistens in meinem Kinderbett auf und wusste nicht, wie ich da hineingekommen war, aber jede Nacht, die ich überlebte, bedeutete, einen Tag länger zu leben.
Meine Mutter erzählte mir viele Märchen und Geschichten, auch die vom kleinen Häwelmann, der auf den Strahlen des Vollmondes bis zu den Sternen fuhr. Die Idee fand ich gut und an einem Vollmondabend wollte ich auch das Schlafzimmer auf den Strahlen des Mondes verlassen und so dem bösen Wolf für immer entgehen. Ich stieg aus meinem Bett, zog einen Stuhl bis zum Fenster, stieg darauf, öffnete das Fenster und wollte gerade auf die Mondstrahlen steigen, als meine Mutter diesem Fluchtversuch ein radikales Ende bereitete, indem sie mich von hinten ergriff und zurückhielt. Meine Mutter fragte mich, was ich denn da machte, ich erklärte ihr, dass doch der kleine Häwelmann auch so zu den Sternen gefahren war. Natürlich habe ich nicht vom bösen Wolf gesprochen, sonst hätte er uns beide aufgefressen.
Am folgenden Tag wurde das Fenster vernagelt. Natürlich war der Wolf immer noch da. Er hatte ja alles gesehen und gehört. Mir blieb nur, jeden Abend mein Gebet aufzusagen. Es hat nie etwas genützt. Nie kam ein Engel, um mich vor dem bösen Wolf zu schützen. Die Engel interessierten sich definitiv nicht dafür, was in meinem Herzen vorging. Vielleicht hatte Gott entschieden, mir anstelle eines Engels lieber einen Wolf zu schicken? Ich überlegte, was er wohl damit erreichen wollte. Vielleicht wollte er mich lehren, meiner Angst gegenüber standhaft zu sein und mich nicht beeindrucken zu lassen?
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